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Titel
Geschichte der Schweiz.


Autor(en)
Maissen, Thomas
Erschienen
Baden 2010: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Endlich steht, gewissermassen als Ersatz für die 1974 erstmals und dann in sechs Neuauflagen herausgekommene Darstellung von Ulrich Im Hof, wieder eine kurzgefasste und doch fundierte Gesamtdarstellung der Geschichte der Schweiz zur Verfügung; eine im 13. Jahrhundert einsetzende, in 12 Kapitel einleuchtend unterteilte Geschichte von acht Jahrhunderten, als grossen Bogen präsentiert, detailreich, aber ohne Anmerkungen und zurückhaltend illustriert und abgerundet mit einer kommentierten Bibliografie. Es ist ein guter Lesetext, seit der dritten Auflage auch mit einem Register zum Nachschlagen versehen und, im Gegensatz zu früher üblichen Nummerierungen und Dezimalklassifikationen, mit zuweilen auch journalistischen Zwischentiteln, die keine allgemeinen Sachtitel sein, sondern als Stimuli zum Weiterlesen anregen wollen, zum Beispiel: «Zürich braucht Hilfe, die Versuchungen im Süden, viele Überzeugungen – kein Geld, Vorarlberg ist nicht willkommen, ein neutraler Atomwaffenstaat?»

Der Text bewegt sich in einer leserfreundlichen Mittelage, er ist keine Erzählung im Sinne von traditioneller Ereignisschilderung, die Einzelauskünfte sind weder in ein Konzept gepresst noch auf eine Gesamtdeutung ausgerichtet. Es gibt aber, in der Einleitung deklariert, ein paar Grundauffassungen: Sie gelten der starken Kontinuität der Schweizer Geschichte und der dennoch ebenso starken Konflikthaftigkeit der Verhältnisse. Eine implizit sichtbar gemachte Leitidee besteht darin, dass die Schweiz eine Lerngemeinschaft ist, die über Jahrhunderte den konfliktbeschränkenden Umgang mit gegensätzlicher Zugehörigkeit gleichsam erlernt hat. Thomas Maissen würdigt explizit die vielen «Anpassungsleistungen » an veränderte – äussere und innere – Verhältnisse.

Vor dem Hintergrund der starken, aber überholten Überlieferungen finden sich in dieser Darstellung immer wieder Aussagen, wie es nicht gewesen ist, das heisst Berichtigungen von unzutreffenden (mythologisierten) Vorstellungen, etwa zum «Volk» der Helvetier, dies aber nicht aus einer verbissenen Dekonstruktionshaltung. Oft werden die Dinge auch ohne exzessives Widerlegenwollen einfach «richtig» gesagt. Eine mittlerweile bereits kaum mehr delikate Gretchenfrage ist die Frage, wie es der Verfasser mit der alteidgenössischen Gründungsund Entstehungsgeschichte hält: Zur Entstehung der Eidgenossenschaft wird mit der Annahme verschiedener, paralleler Bündnis-Netzwerke (Eidgenossenschaften aller Art – im Pl.) ein dem neuesten Stand der Einsichten entsprechendes Bild vermittelt. Es fand keine «Gründung» der alten Eidgenossenschaft statt – und schon gar nicht am Ende des 13. Jahrhunderts. Erst im Laufe des 15. Jahrhunderts seien die offenen Bündnisse zu einem ausschliesslichen Bündnis (einem Bündnisverbund) und seien die Habsburger zu «Erbfeinden» geworden.

Unter dem Zwischentitel die «Eidgenossen erfinden ihre Geschichte» wird deutlich gemacht, dass mit der um 1470 aufgekommenen und ans Ende des 13. Jahrhunderts zurückverlegten Gründungsgeschichte eine für den gesamten Bund wichtige Basis geschaffen wurde. Nicht historische Taten (in Form von Schlachten und Bündnissen), sondern Historikertaten (in Form von Geschichtsschreibung) hätten die Schweiz als politische Einheit gegründet (S. 76). Alltag schimmert in der Haupterzählung des Politischen zuweilen durch, wenn es, wie im Waldmannhandel Ende der 1480er Jahre, um die Liquidation zu grosser, den Wildbestand gefährdender Hunde oder wenn es kurz zuvor um ein Verbot von luxuriösen Schnabelschuhen geht.

Die Darstellung konzentriert sich auf die Staatsgeschichte in Kombination mit etwas Wirtschaftsgeschichte. Das Soziale wird vor allem dann angesprochen, wenn es machtpolitisch bedeutsam ist, zum Beispiel mit dem Identifizieren der grossbürgerlich-kleinadligen Aufsteiger, die sich im Laufe des 14. Jahrhunderts gestützt auf Dorfklientel gegen lokalen Adel und klösterliche Institutionen durchsetzen (S. 34). In den Anfängen ist die Schweizer Geschichte vor allem Territorial- und Bündnisgeschichte. Dabei entsteht der Eindruck, dass einmal getroffene Abkommen in erstaunlich hohem Mass wirkungsmächtig waren und vor allem durch neue Bündnisse an die weitere Entwicklung angepasst wurden. Vertragsabschlüsse waren wichtiger als Eroberungen, auch wenn den Einigungen zuweilen Kriege vorausgingen. Rechtsbrüche, die mitunter ja auch vorkamen, bildeten die Ausnahme. Der Verfasser scheute sich nicht, die gewalttätigen Rechtswidrigkeiten etwa von Schwyz gegenüber dem Kloster Einsiedeln im Jahr 1314 beim Namen zu nennen. Auch die Bundesstaatsgründung ein halbes Jahrtausend später blieb nicht ohne Rechtsverletzungen: Die Staatsgründer von 1848 haben, Maissen macht das deutlich, «im Prinzip» einen revolutionären Standpunkt eingenommen und ihr Projekt «gedanklich» vorweggenommen.

Die Konzentration auf das Politische entspricht möglicherweise einem historiographischen Trend unserer Zeit, sie mag im Falle einer nationalen Gesamtgeschichte aber auch gerechtfertigt sein. Thomas Maissen hat diese «Rechtfertigung» bereits früher im Themenheft der SZG «Problem Schweizergeschichte» (1/2009, S. 15) vorgebracht, indem er bemerkte, dass das «spezifisch Schweizerische» vor allem im Politischen liege und dass Lokal- und Regionalgeschichten sich zur Abhandlung alltagsgeschichtlicher Fragen (und damit für Sozial- und Mentalitätsgeschichte) besser eignen als Nationalgeschichte. Zu einer Konzentration auf das Politische kommt es nicht einzig wegen der nationalgeschichtlichen Dimension, sondern letztlich auch aus einem Grundverständnis der Entwicklungen: Wie der Primat des Politischen gesehen wurde, zeigt etwa die Formulierung, der Umbruch von 1830 habe «neben» den politischen auch gewichtige wirtschaftliche Faktoren gehabt. Ähnlich später für 1848: Die Schaffung des Binnenmarkts erscheint als Sekundärprodukt des Willens für einen Gesamtstaat. 1847 sei niemand für das Briefmarkenmonopol in den Krieg gezogen (S. 203).

Die verschiedenen Landesteile und Regionen sind, was bei der aus kantonalen Teilstaaten zusammengesetzten Schweiz stets ein Problem ist, angemessen präsent; die Berücksichtigung der Epochen ist ebenfalls ausgeglichen. Einzig die so genannte «demokratische Bewegung» um 1860/70 wird auffallend knapp gehalten. Und zur Schul- und Hochschulgeschichte hatte es, wie meistens, offenbar nicht mehr gereicht. Wie heutzutage vermehr erwartet wird, strebt der Verfasser eine stärkere Verankerung der Schweiz in den europäischen Kontext an. Darum recht häufig Formulierungen wie «anders als in Deutschland» oder «auch in der Schweiz». Solche Vergleiche führen im jüngsten Zeitabschnitt wiederholt zu bewussten und unvermeidlichen Hinweisen auf «Rückstände» und «Verspätungen», nicht nur im Frauenstimmrecht, sondern auch in der Übernahme völkerrechtlicher Normen oder in der Auseinandersetzung mit der Weltkriegvergangenheit. Dazu gehört auch die nicht zufällig von einem Historiker vorgebrachte Warnung, dass Rezepte der Vergangenheit zur Bewältigung von Gegenwart und Zukunft kaum ausreichen werden (S. 323).

Naheliegend ist die Frage, ob die Schweiz als Sonderfall zu verstehen ist. Die Antwort kann nicht anders lauten als ja und nein. Zuweilen gewiss ja, wenn es etwa heisst, es sei «aussergewöhnlich» gewesen, dass Adelsherrschaft nicht von Landesfürsten, sondern von republikanischen Institutionen abgelöst oder verdrängt werden konnte und es zu ständeübergreifenden Bündnissen (zwischen Stadt- und Landorten) gekommen ist. Eine Frage meldet sich da beim Leser: Hat der Sonderfallcharakter der Schweiz im Laufe der Zeit zugenommen?

Zu dieser kleinteilig strukturierten Schweiz gibt es so viel zu berichten, dass kaum Zeit und Raum für ein Signalisieren von Fragen gibt. Dann und wann kommt dennoch – und erfrischend – eine grössere Frage hoch. Etwa: «Weshalb bleibt die Innerschweiz katholisch?» Die Doppelantwort geht dahin, dass sie ihre ohnehin schwache Position nicht durch zusätzliche Konflikte mit den beiden katholischen Universalmächten belasten und dass sie sich ihre Einkünfte mit den Fremden Dienste nicht von den reichen Reformkantonen in Frage stellen lassen wollten. Maissen verzichtet alles in allem aber weitgehend auf abstrakte Diskussionen um Deutungsfragen. Der Hinweis auf die Konfessionalisierungs-Kontroverse bleibt eine Ausnahme (S. 102). Darum auch der weitgehende Verzicht auf Historikerdebatten. Im laufenden Text werden aber markante Positionsbezüge mit Kollegennennungen sichtbar gemacht, mit Verweisen etwa auf Marco Jorio («restaurative Ultras») oder auf Hansjörg Siegenthaler («Quellen der Wahrheit»).

Das Buch berichtet in kundiger, sachlicher und trefflicher Weise tout simplement über die wichtigsten Entwicklungen. Die Prägnanz der Darstellung macht sich mit ihren präzisen und konzisen Formulierungen sozusagen selber wieder beinahe unsichtbar. Dann und wann blitzt ein persönlicher Kommentar auf, der den Verfasser auch als subjektives Subjekt etwas aufscheinen lässt. Je näher an die Gegenwart, desto kritischer wird die Einschätzung der Gegebenheiten: Im letzten Krieg hat der Bundesrat seine Handlungsspielräume als zu gering eingeschätzt (S. 263), und nach 1945 sei die Neutralität mit «haarspalterischen Theorien » gerechtfertigt worden (S. 280), die Bestimmungen des Saisonnierstatuts erscheinen als «schikanös» (S. 291), etc. Dem ist beizupflichten. Die 700-Jahr-Feiern von 1991 sind indessen nicht wie eingestuft «gescheitert» (S. 307), sie waren alles in allem trotz Kulturboykott ein grosser Erfolg, gescheitert sind einzig die überrissenen Projekte einer dezentralisierten Landesausstellung. Auch bei einer anderen Einschätzung ist Vorbehalt angebracht: Die Neuerungen der Verfassungsrevision von 1999 werden zwar in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Meinung, aber dennoch nicht ganz treffend als bescheiden eingestuft (S. 317).

Wie ist die Schweiz zu dieser längst fälligen Gesamtdarstellung gekommen? Einerseits mag sie Teil einer breiteren «Rückkehr des Geschichtlichen» sein, die hier nicht weiter zu diskutieren ist. Anderseits war es eben diese Fälligkeit, die einen Verleger und einen Historiker stimulierte, sich der Aufgabe zu stellen. Jedenfalls kamen, wie das ganze Buch zeigt, zwei «Dinge» in idealer Weise zusammen: der objektive Bedarf und ein mit den notwendigen Fähigkeiten ausgerüsteter Autor. Zur guten Ausrüstung gehörte eine über Jahre erarbeitete Sachkundigkeit in verschiedenen Zeiträumen der Schweizergeschichte, von der frühen Neuzeit mit der Dissertation zur italienischen Renaissance (1995) über das 19. Jahrhundert mit dem Buch «Vom Sonderbund zum Bundesstaat» (1998) bis zu den Kontroversen zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit dem Titel «Verweigerte Erinnerungen» (2005). Dazu gehörte aber auch, was bei einer synthetisierenden Gesamtgeschichte besonders wertvoll ist, eine gewandte Feder, die den grossen Stoff gut vermitteln kann. Gespitzt wurde diese «Feder», soweit sie nicht einfach gegeben war, durch das langjährige Wirken auch als Blatthistoriker der NZZ und treuer Rezensent der HLS-Bände.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz. hier+jetzt, Baden, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 474-477.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 474-477.

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